SSM-Secondhand

aus  „30 Jahre SSM“, Broschüre 2009

Der Küchentisch

Ali Demir, Ehrenamtspreis KölnEngagiert in 2007

Im Sommer 1981 mietete ich in Buchforst
eine kleine Wohnung mit WC, aber ohne
Badezimmer von der GAG. Ich sollte die
Wohnung mit Kohle beheizen. Ich ging
um die Ecke zum Praktiker, wollte einen
Kohleofen kaufen und ihn mit einem Ein-
kaufwagen nach Hause transportieren.
Der Ofen war sehr teuer. Ich hatte vom
BAföG 700 DM bekommen, während der
Kohleofen 850 DM kostete. Auch sonst
hatte ich keine Möbel, keinen Küchen-
tisch, keine Stühle, keine Schreibtisch,
auch nichts an anderen Haushaltssachen.

So kaufte ich im Baumarkt nur ein großen Plastikeimer. Zu Hause machte ich im
Kochtopf Wasser warm, um mich am Plastikeimer zu waschen, weil ich kein Ba-
dezimmer und auch kein Warmwasser hatte.

In den folgenden Tagen ging ich noch öfters zum Praktiker, um nach ko-
stengünstigen Haushaltssachen zu suchen. Hoffnungslos, alle Sachen waren für
mich zu teuer. Ich war hilflos und in Not. Ich kam aber dort mit zwei Männern
ins Gespräch. Sie erzählten mir, dass man in der Düsseldorfer Straße 74 alle mög-
lichen Sachen finden und sehr kostengünstig kaufen könnte. Ich war fremd in
Köln, aber sie beschrieben mir den Weg.

So kam ich zum SSM und suchte erst einmal nach einem Kohleofen. Ich
fand tatsächlich einen für 60 DM. Dann noch einen Küchentisch (15 DM), einen
Schreibtisch (20 DM) und zwei Stühle mit je 5 DM. Dies machte 105 DM, bezahlen
brauchte ich aber nur 100 DM. Wie aber konnte ich die Sachen in meine Wohnung
transportieren? Ich ging zu einem türkischen Lebensmittelgeschäft. Sie hatten ei-
nen Transporter und haben alle Sachen für 20 DM. nach Buchforst transportiert.
Ich machte die Möbel sauber und fühlte mich in meiner kleinen Wohnung endlich
gut. Ich kochte Tee, stellte ihn auf den Küchentisch und trank ihn mit großer Freu-
de.

Ein Tag später schon ging ich wieder zur Düsseldorfer Straße. Ich wollte ei-
nen Warmwasserboiler kaufen, um damit in dem kleinen WC eine Dusche zu ba-
steln. Aber ich war skeptisch. Ob die Leute auch einen Boiler haben? Wie trans-
portieren? So schaute ich mich und sah plötzlich in einer Ecke, was ich suchte. Ich
wollte wissen, ob er funktioniert. Ich ging zu dem Mann, der Ladendienst hatte.
Er war nett und hat mich in meiner Sprache begrüßt. Er konnte ein paar Wörter
türkisch sprechen. Er wollte mir den 60 Liter-Warmwasserboiler für 50 DM ver-
kaufen. Das war wie ein Lotteriegewinn für mich. Ich rannte nach Buchforst und
suchte einen Freud, der in Aachen Elektrotechnik studierte. Ob er für mich die
Elektroinstallation machen könnte?. Er sagte Okay. So kaufte ich den Boiler. Der
nette Mann hat dann sogar das Gerät kostenlos nach Buchheim transportiert.
Mein Freund Musa montierte den Boiler dann in der Toilette. Ich hatte vom
Baumarkt Plastik-Platten gekauft. Damit wurden alle Wände isoliert. Ein Abfluss
gebohrt. Der Boden wurde dick lackiert. Das Badezimmer war fertig.
Dann saß ich auf dem WC-Sitz, habe gesungen – und geduscht. In einen
fremden Land war ich nun zu Hause.

Seit 1981 kaufe ich kleine Möbel beim SSM. Ich danke diesen freundlichen
Leuten, dass sie für arme Leute solche Dienste leisten.

 

 

 

aus CONTRASTE, Nr. 422, 11-2019

Porträt

Sozialismus á la SSM

In Köln lebt nun schon seit 40 Jahren die Mülhei-
mer Selbsthilfe ganz konkret Neues im Alten.
Sozial engagierte Menschen haben sich mit
Verlierer*innen und Ausgegrenzten der Konkur-
renzgesellschaft zusammengeschlossen, um ihr
gemeinsames Ding zu machen. Gleichheit statt
Ausbeutung, Miteinander und Füreinander statt
Ellbogenmentalität, Inklusion statt Ausgren-
zung, Aufstehen gegen Ungerechtigkeiten statt
Ohnmacht, das sind ihre sozialistischen Leitsätze.

Das radikale Grundverständnis des Vereins
deutet schon darauf hin: Der SSM ist mit seinen
inzwischen 25 Mitgliedern politische Gemein-
schaft und praktische Kritik des kapitalistischen
Systems. Nichts weniger als die Veränderung
des Bestehenden hat er sich auf seine Fahnen
geschrieben, nicht morgen, sondern hier und
heute und mit den Menschen von hier und
heute. Und mag die Veränderung auch nur
klitzeklein sein mitten im Meer eines blinden
betriebswirtschaftlichen »business as usual«, so
zeigt jedes Fortschreiten der Protagonist*innen
einer solidarischen Gesellschaft doch Tag für
Tag: Ein andere Welt ist möglich.

Ein-Topf-Wirtschaft

Seit eh und je ist beim SSM alles ganz einfach
und durchschaubar. Alles Geld aus Wohnungsauf-
lösungen, dem Secondhand-Laden – inzwischen
auch aus anderen Bereichen – kommt in den einen
Finanztopf der Gruppe. Daraus werden die Haus-
und Wohnkosten bezahlt, die LKW unterhalten,
politische Aktionen gestemmt, diverses Werkzeug
und Maschinen angeschafft, es wird die Sozial-
versicherung beglichen. Zum Schluss bleibt dann
ein Taschengeld, das an jedes der Mitglieder des
Selbsthilfevereins in gleicher Höhe zur persönli-
chen Verfügung ausgezahlt wird. Die Höhe rich-
tet sich nach der Kassenlage. Jedes Mitglied hat
zudem ein Recht auf angemessenen Wohnraum.
Mit weniger Geld besser leben
Eigenarbeit und Selbstversorgung sind der
nachhaltige Clou beim SSM. Viele gebrauchte
Dinge vom Tisch bis zum Buch nehmen wir aus
den Wohnungsauflösungen. Secondhand bedeu –
tet 90 Prozent CO2-Einsparung. Der Berufsver-
kehr entfällt, da wir am Arbeitsplatz wohnen.
Wir heizen mit kostenlos besorgtem Holz, das
wir zersägen oder spalten. Wir wohnen in selbst
erbauten/renovierten Zimmern und Wohnun-
gen. Das Mittagessen kommt aus den eigenen
Töpfen. Das Wissen der Einzelnen steht allen
zur Verfügung. Das »rechnet« sich. So braucht
es deutlich weniger Erwerbsarbeit, um den
Lebensunterhalt zu verdienen. Dies schafft
Zeit für Politisches wie Soziales. Menschen mit
Beeinträchtigungen haben ebenso ihren Platz
in der Gemeinschaft wie die Fitteren. Es muss
bei uns eben nicht wie in der Fabrik immerzu
alles »hoppladihopp« zugehen. Dies bedeutet
auch, dass sich die Gruppe jede Woche einen
ganzen Vormittag für eine Vollversammlung
Zeit nehmen kann. Hier wird die Arbeit für die
kommende Woche geplant, und es werden eine
Menge Probleme zusammen gewälzt und meist
auch gelöst. Politik ist besonders wichtige Arbeit:
»Wo Unrecht oder Missstand ist, da wehre dich
redlich.« So hat der SSM sich stets auf Seiten
der kleinen Leute in das Stadtteilgeschehen
eingemischt. Und montagabends berät unsere
Selbsthilfe mit Unterstützer*innen kostenfrei
Hilfesuchende, die Ärger mit Behörden oder
Vermietern haben.

Selbsthilfe für jedermensch

Wer bei der »Neuen Arbeit« unserer Gemein-
schaft mitmachen will, muss kein Abitur haben
oder Geld einbringen, er oder sie muss nur
guten Willens sein, sich ernsthaft einzubrin-
gen. Die Selbsthilfe bietet allen Interessierten
eine Kennenlern-Woche an. Wer möchte, kann
danach bei uns einsteigen, falls die Kapazitäten
es zulassen. Nicht wenige Menschen »stranden«
beim SSM, weil sie in eine Notlage geraten sind,
z.B. obdachlos wurden. Mitmachen bedeutet
auch, zu lernen, für sich wie für die ganze Grup-
pe Verantwortung zu übernehmen.
Als offene Gruppe lernen uns viele auch
als Kund*in kennen, bei einem Umzug, einer
Wohnungsauflösung, im Secondhand-Laden,
beim Konzert, in einem Seminar oder beim Yoga.
Im Stadtteil setzen wir uns mit anderen für besse-
re Lebensqualität ein. Zu etlichen Initiativen und
Parteien halten wir Kontakt. Mit alldem sind wir
ein wichtiger Netzwerkknoten geworden. Über-
regional ist der SSM Mitglied im Kommuja-Netz-
werk wie im Verein »Second-Hand vernetzt«.
Anerkennung bekommen wir oft dafür, dass
unsere Selbsthilfe an den Rand gedrängte
Menschen vorbehaltlos in ihre Mitte aufnimmt und
ihnen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
unabhängig von Sozialstütze gibt. Ein Unterstüt-
zer*innenkreis fördert uns stetig bei Investitionen.
Unser SSM-Geheimnis ist die Mischung: »Neue
Arbeit« verbindet die Stärken der Einzelnen und
gleicht ihre Schwächen aus. Und: Nicht nur kleine
Bretter bohren, gerade auch dicke. Das dickste war
aktuell, den Neubau des Secondhand-Möbellagers
samt Wohnraum zu stemmen. Tag für Tag lernen
wir alle eine Menge dazu. Das hält uns lebendig
und wir wachsen daran.